Wie ich meinen Schwager kennenlernte.

Kriegserinnerungen von G. R.
in: „Solinger Kreis-Intelligenzblatt” vom 23.10.1897


Das eine Zwillingskind bin ich, das andere ist meine Schwester Trudchen. Daraus, daß ich im Sommer 1870 als wohlbestallter Füsilier mit ins Feld ruckte, ist zu ersehen, daß ich nicht ebenfalls ein Mädchen bin, denn mit den Nachfolgerinnen einer Eleonore Prohaska gab sich das deutsche Heer damals wie heute grundsätzlich nicht mehr ab. Trotzdem sehe ich meinem lieben Schwesterlein lächerlich ähnlich, im „großen Jahre” noch viel mehr als jetzt, sintemalen die schönste Manneszierde Lippen und Wangen durchaus noch nicht überschatten wollte, als ich zum wirklichen Krieger aufrückte. Wir harrten eben des Befehls zum Abmarsch nach dem Bahnhof, als noch eine Depesche an mich einlief: „Soeben Trudchen mit Königlichem Bauführer Richard Riemann verlobt, Bräutigam rückt auch ins Feld. Innige Grüße
Vater, Mutter, Trudchen, Richard.”

Erstaunt war ich nicht sehr, denn Trudchen konnte entschieden als ein sehr hübsches Mädel gelten, mit welchem Umstand ich als der andere Zwilling nicht prahlen will. Einundzwanzig Lenze zählte sie ebenfalls, also warum sollte nicht die Anwartschaft zur Haube allmälig herankommen? Besagten Herrn Richard Riemann kannte ich nicht; das bereitete mir indessen keine Schmerzen. Aus Königlichen Bauführern können Königliche Baumeister, Bauräthe u. s. w. werden, also Leute in recht angenehmen Stellungen, die im stande sind, ihren Ehefrauen ein solides Haus zu bauen. Ich kritzelte rasch einen tiefgefühlten Glückwunsch, den der gefällige Depeschenbote gleich mitnahm, und saß eine halbe Stunde später im Eilgutwagen nach Paris. Leider fuhr der Zug nicht sofort nach seinem eigentlichen Bestimmungsorte durch. Es traten heftige Verkehrsstockungen an der franzosischen Grenze ein, die vermittelst Aussteigens und größerer Spaziergänge überwunden werden mußten. Selbst diese Spaziergänge stießen verschiedene Male auf Schwierigkeiten, und es ereignete sich auch häufig, daß in Folge Ueberfüllung der Gasthöfe das reisende Publikum im Freien zu übernachten genöthigt war. Bei Gelegenheit eines dieser billigen Freiquartiere im wunderschönen Monat September goß es vom feindlichen Himmel wie mit Waschkübeln herunter. Mit unendlicher Mühe glückte es mir mit meinem Kochkameraden endlich, unter Zuhilfenahme nassen Holzes und feuchter Streichhölzer auf dem klatschnassen Boden des heiligen Frankreich einem trübqualmenden Feuerchen zu schwindsüchtigem Dasein zu verhelfen. Dem triefenden Brodbeutel entnahmen wir glitschigen Speck und aufgeweichten Zwieback; nach fürchterlichem Husten und Pusten entwickelte sich aus diesen Genüssen schließlich wenigstens eine warme Suppe, welche ich allerdings später selbst in den berühmtesten Kochbüchern niemals entdecken konnte. Sie schmeckte aber und das war schließlich der Zweck der Uebung. Nachher bummelte ich, da das Hinsetzen oder Legen in den braunen Matsch mir vorläufig noch keine Freude machte, ein Bischen im Biwak herum und entdeckte dicht hinter dem Platze unseres Bataillons das Lager einer Ponton-Kolonne. Ich hatte die saubern Wasserdroschken aus Eisenblech noch nie in der Nähe gesehen und suchte nun mit begreiflicher Neugier meine militärische Wissenschaft zu bereichern. Hm, sollte das etwa nicht erlaubt sein? Ein großer, bärtiger Vizefeldwebel von den Pionieren beobachtete mich so scharf, daß ich aufing, einigermaßen verlegen zu werden. Durch einen raschen Umblick überzeugte ich mich, daß wenigstens anderthalb Schock meiner Füsilier-Kameraden dem gleichen Forscherdrang huldigten, der meine Brust durchströmte, ohne daß sie deshalb von Pionier-Vizefeldwebeln mit Blicken durchbohrt wurden.

Plötzlich schritt der argwöhnische Brückenbauer geradeswegs auf mich zu. Ich nahm erschrocken die Hände an die Hosennaht und richtete mich stramm auf.

„Wie heißen Sie?” fragte der Vize kurz und warf einen Blick auf meine Achselklappen.

„Füsilier Bornemann von der 12. Kompagnie xten Füsilier-Regiments,” meldete ich beklommenen Herzens.

„Stimmt, Ihr Vorname?”

„Hermann, Herr Feldwebel!”

„Stimmt erst recht Kommen Sie mal mit!”

Er schritt voraus an eines der Pontons. Die Fahrzeuge lagerten umgekehrt, das heißt mit der offenen Seite nach unten auf einem glatten Lager von Belagbalken und Bohlen und diese wieder auf einem eigens zu diesem Zweck konstruirten Wagen. „Da hinauf!” Mit handfestem Griff packte mich der grimmige Gewalthaber am Hosenbund und hob mich unter bescheidener Nachhilfe meinerseits unter das Ponton ins Trockene. Es war hier wundervoll sauber und nett, wie in einem parkettirten Prunkzimmer, — so schien mir's wenigstens damals. Der Herr Feldwebel entwickelte darauf aus einem verschlossenen und fest angerödelten Kasten eine große wollene Decke, die er auf den Bohlen ausbreitete.

„Bitte, Füsilier Hermann Bornemann, nehmen Sie gefälligst Platz!” Ich folgte halb betäubt der Aufforderung, denn die Bitte von Vorgesetzten ist bekanntlich Befehl.

„Haben Sie Hunger?”

Trotz der eben vertilgten Zwiebackbrühe konnte ich das nicht leugnen, denn sie stellte höchstens den fünften Theil der Speisenmassen dar, welche meinem einundzwanzigjährigen Soldatenmagen genügt haben würden.

Auf der Wolldecke bauten sich nunmehr die appetitlichsten Sachen auf, einem bei uns längst verklungenen Speisezettel angehörend, als da waren: Wirkliches, echtes, richtiges Kommißbrod (kein Zwieback), köstliche Mettwurst, kalter Schweinebraten, Mixed-Pickles, ein großer Keil Holländer Käse und eine leicht angetrunkene Flasche Cognac.

„So, bitte, gehen Sie drauf wie bei Weißenburg, Wörth und Sedan, machen Sie Ihrem guten Regiment auch hier keine Schande, — ich helfe ein bischen zur Gesellschaft mit!”

Innerlich schüttelte ich zwar den Kopf über diese sonderbare Liebenswürdigkeit, äußerlich jedoch durchaus nicht, sondern hieb ein wie Blücher. Nach der ersten Halbpfundstulle und dem zweiten Schluck Kognak schwoll mir der Heldenmuth wieder so weit, daß ich mich zu der Frage emporschwang: „Wodurch habe ich die Ehre verdient, daß der Herr Feldwedel mich — mich —?”

„Daß der Herr Feldwebel,” fiel mein Gastgeder ein, „Sie so unvermuthet vom Sturzacker weg zu einem den Umständen nach gar nicht so übeln Vesperbrod einladet, nicht wahr? Na, junger Freund,” die Augenwinkel des Vize zuckten lustig, „weil Sie mir einen ganz ausnahmsweise verhungerten Eindruck machten. Mein mitleidiges Herz — und so weiter und so weiter, verstanden?”

„Zu Befehl, Herr Feldwebel!”

Jedes Ding hat seine Zeit, selbst ein Füsilierhunger; ich war zur Abwechslung mal wieder richtig satt, klappte mein Messer zu und schob es in die Tasche.

„Hat's geschmeckt, Freundchen?”

„Danke gehorsamst, Herr Feldwebel, ganz ausgezeichnet!”

Mit einer gewissen Feierlichkeit langte der große Mann abermals in die Kiste und entnahm derselben eine gesiegelte Flasche nebst einem silbernen Doppelfeldbecher. Er zog ihn auseinander, entkorkte die Flasche und schenkte langsam ein.

„Jetzt wollen wir nach gethaner Arbeit anstoßen! Seine Majestät unser allergnädigster König und Kriegsherr lebe hoch! — austrinken bis zum letzten Tropfen! gut!”

Das Weinchen floß wie Oel hinunter. „O, diese Scharniere (Scherzname in der Armee für Pioniere),” dachte ich, „haben's die gut mit ihren Reserven auf allerlei Gefährt!”

Der Vize schenkte abermals ein. „Nun zum zweiten Mal Trinkspruch, nach welchem abermals kein Tropfen im Becher bleiben darf: — unser herziges Trudchen soll leben!”

Jetzt ging mir ein ungeheurer Seisensieder auf, wie man so zu sagen pflegt, denn wenn ich auch keine Leuchte der Wissenschaft mir zu sein schmeichle, so bin ich doch nicht vollständig auf den Kopf gefallen. Und in den Armen lagen sich beide. — —

Es wird nun zwar behauptet, daß alles schon einmal dagewesen ist, aber daß jemand seinen Schwager unter einem umgedrehten Königlich Preußischen Ponton bei Schweinebraten und Rothspon kennen lernt, dürfte doch als vereinzelt dastehender Fall zu betrachten sein.

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